Das Jahr 2022 neigt sich dem Ende zu. Für mich war es ein besonderes Jahr. Seit gut 2 ½ Jahren lebe ich als Frau. 3 ½ Jahre ist es her, dass ich mich meiner Familie gegenüber geoutet habe.
Während 2020 und 2021 noch sehr im Zeichen meiner Transition standen, d.h. der Angleichung des Geschlechts und ich mit meinen Angehörigen eine Flut von Veränderungen zu bewältigen hatte, stand das Jahr 2022 unter dem Zeichen der neuen Normalität.
Auch wenn sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen durch das nur zögerliche Auslaufen der Corona-Krise, dem Beginn des Kriegs in der Ukraine, den unsäglichen Entwicklungen im Iran mit der Unterdrückung der Freiheit der Menschen und vielen anderen Krisen deutlich verschlechtert haben, blicke ich aus persönlicher Sicht auf eine positive Zeit zurück.
Ich kann heute in der deutschen Gesellschaft ein sicheres und zufriedenes Leben führen. Ich bin anerkannt und von vielen großartigen Menschen umgeben, die in der ganzen Zeit der Veränderungen zu mir gehalten haben.
Meine „zweite“ Pubertät ist weitestgehend abgeschlossen. Ich bin jetzt der Mensch, der ich bin und nicht eine Person oder Rolle, die ich gerne einnehmen wollte. Während ich in dieser Phase der neuen Selbstfindung sehr egozentrisch war und viele meiner Liebsten zum Teil überfordert bzw. ohne Wollen verletzt habe, kann ich nun wieder viel empathischer mit anderen Menschen interagieren.
Ich werde optisch immer ein Stück weit den Mann erkennen lassen, der ich war. Aber ich freue mich vor allem über die Veränderungen, die seither in die weibliche Richtung eingetreten sind.
Ich erblicke im Spiegel seit meiner finalen Entscheidung, den finalen Schritt in ein neues Leben zu gehen, nun nur noch mich selbst und nicht eine mir fremde Person. Ich bin glücklich, diesen Schritt von Jens zu Nora gegangen zu sein und bereue dies zu keinem Moment.
Beruflich habe ich meine beiden geplanten Wege weiter gehen können. In meiner freiberuflichen Tätigkeit als strategische Beraterin werde ich wertgeschätzt und bekomme anspruchsvolle Aufgaben übertragen. Meine beruflichen WegbegleiterInnen akzeptieren mich in der heutigen Rolle, als hätte es nie ein gestern gegeben.
In meiner neuen Laufbahn als Aufklärerin über LGBTQIA+ durfte ich Veranstaltungen in Berufskollegs und Unternehmervereinigungen wie dem Rotary-Club abhalten. Ich konnte dabei vielen Menschen Hintergrundinformationen zum Thema trans* und LGBTQIA+ vermitteln. Die Resonanz aus den Veranstaltungen war sehr positiv und hat mich in meiner Auffassung bestätigt, dass viele Menschen sehr offen für diese Belange sind, dass aber so viel Unwissenheit herrscht und nach wie vor viele Klischees und Vorurteile den unvoreingenommenen Umgang mit betroffenen Menschen erschweren.
So hoffe ich, dass ich auch im Jahr 2023 an vielen Berufskollegs, in Unternehmen und Verbänden weiter Aufklärungsarbeit leisten kann. Dies sehe ich auch als meinen gesellschaftlichen Beitrag für mehr Akzeptanz von Betroffenen an.
Medial habe ich mit meinem Buch „Endlich Nora!“ einen Kreis von Menschen erreicht, die mein Lebenslauf, stellvertretend für viele andere, interessiert. Ein Auftritt in der Sendung „SWR1-Leute“, Artikel meiner Tochter mit dem Titel „Mein Papa Nora“ in der Zeit online und aktuell heute am 27.12.2022 auch in der Printausgabe des „Tagesspiegel“ helfen mir, mehr Bekanntheit zu bekommen, um weiter aufklären zu können.
Liebevolle Rückmeldungen persönlich, per Mail oder über die sozialen Medien von Lesenden zeigen mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin!
Von daher blicke ich nun voller Zuversicht in ein hoffentlich viel friedlicheres Jahr 2023 und wünsche allen Menschen ein wunderschönes, gesundes und glückliches neues Jahr!
Vor allem wünsche ich mir, dass dieser unsägliche Krieg in der Ukraine ein Ende findet und die Menschen in diesem Land in den bisherigen international anerkannten Grenzen bald wieder ein friedliches Leben führen können.
Eure Nora